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Peter Wenzel: Prag, oder: Die bessere Erinnerung

Ich versprach mir nicht viel von Prag. Eine Schande übrigens, dass ich noch nie dort gewesen bin; und ich sage es lieber gleich, dass ich mich nicht getraut habe, die noch lebenden Verwandten (ausgenommen Vater) über meine Großeltern auszufragen, dabei hätte ich wahrscheinlich eine Menge herausbekommen können. Die Reaktionen auf mein erstes Buch waren zu befremdlich gewesen, und ich war mir einfach nicht mehr sicher, wer auf welcher Seite stand. Zudem, wenn ich es nüchtern betrachtete, hatte das Schreiben und Veröffentlichen von Texten und die Hoffnung, jemanden aus meiner Familie damit beeindrucken zu können, mir nichts als Schwierigkeiten eingebracht. Entgegen meiner Erwartung wurde das Buch angefeindet, ignoriert und totgeschwiegen, vor allem aber mit dem schwerwiegenden Vorwurf belegt, ich hätte das Leben und den Ruf der Großeltern „in den Dreck“ gezogen, hätte auf perfide Weise Gutes ausgeklammert und Schlechtes hervorgehoben, indem ich sie auf ihre nationalsozialistische Vergangenheit reduziert hätte. Ich bin nicht direkt damit konfrontiert worden, nein, es waren die üblichen Kanäle, über die ich erfahren hatte, was man mittlerweile von mir hielt. Ich konnte sie förmlich reden hören. Ich, der ich in meinem Leben nichts zustande gebracht hatte (ausgenommen der Matura vielleicht, und die mit Bauchweh), keinen Job länger als ein Jahr halten konnte, Schulden gemacht und jämmerlich um Hilfe gefleht hatte, so einer habe kein Recht, Menschen zu verurteilen, die ein Leben lang hart gearbeitet und ihn finanziell unterstützt hatten. Woher ich glaube, mir herausnehmen zu können, über jemanden zu richten (obwohl das ja gar nicht stimmte – vielmehr war es ein Versuch des Benennens, nicht des Bewertens gewesen), der einen Weltkrieg überstanden hatte, Mord, Totschlag und Vertreibung, und es trotzdem zu etwas gebracht hatte. Leute, ohne die ich nicht mal ein Dach über dem Kopf gehabt hätte und so weiter und so fort. Vorwürfe, die mich mit einer solchen Wut erfüllten, dass ich beschloss, jeden Kontakt abzubrechen. Mag sein, dass ich, was mein Buch betraf, besonders empfindlich reagierte, trotzdem war es an der Zeit, mit Nachdruck auszurufen, dass ich mich ehrlich, aufrichtig und respektvoll mit einem ebenso anspruchsvollen wie dunklen Thema auseinander gesetzt hatte und es ganz einfach bodenlos ungerecht fand, mich als Schandmaul abgestempelt zu sehen. Zudem muss gesagt werden, dass meine Darstellung der Dinge eine allgemeine Gültigkeit besaß, von einer Jury und einem Verlag für veröffentlichungswürdig befunden worden war, was man von den teilweise unhaltbaren, subjektiv gefärbten und in manchen Fällen vollkommen aus der Luft gegriffenen Anschuldigungen nicht behaupten konnte. Obendrein, was hätte es auch für einen Sinn gemacht, das Schöne und Erinnerungswürdige, das Liebliche und Idyllische in den Vordergrund zu stellen und alles übrige zugunsten eines verklärten Bildes beiseite zu schieben? Was wäre dabei herausgekommen?
Natürlich hätte ich mir sagen können, dass eine Reaktion darauf ebenso überflüssig war und jeder halbwegs vernünftig denkende Mensch ohnehin verstanden hatte, worum es mir ging und was ich versucht hatte darzustellen, aber ich fühlte mich in meiner Rechtschaffenheit und meiner Ehre gekränkt, noch dazu auf einem Gebiet, das mir unmöglich egal sein konnte.
Meinen Zorn und mein Unverständnis darüber hatte ich versucht, mir in Form eines Romans vom Hals zu schaffen, dessen erste Fassung allerdings vom Verlag mit der Begründung „Das könne man niemandem antun“ abgelehnt worden war. Ich hätte nicht genügend Abstand zum Thema und solle mir erstmal das Ganze von der Seele schreiben. Zudem seien die einzelnen Figuren unerträglich lebensecht, als hätte ich die Gespräche aufgezeichnet und hinterher eins zu eins niedergeschrieben.
Gewiss, nichts konnte das heillose Gefühl der Getrenntheit, das mich in familiärer Hinsicht befallen hatte, rückgängig machen, aber ich musste mir selbst darüber im Klaren werden, wo ich herkam und wohin ich gehen würde. Ein Vorhaben, das jeder Geschichts- und Religionslehrer mit Begeisterung unterschrieben hätte und das ich für mich doch schon längst umgesetzt hatte, als ich den unökonomischen und schwachsinnigen Büroalltag gegen eine universitäre Ausbildung eingetauscht hatte. Und wenn ich nun nach Prag fuhr, quasi an den Anfang der Geschichte, dann geschah das einzig und allein aus dem zwingenden Umstand heraus, mehr darüber in Erfahrung bringen zu wollen.

„Adresse gibt es keine“, sagte mein Vater, als ich ihn über die bevorstehende Reise in Kenntnis setzte und fragte, ob es bestimmte Plätze gebe, die ich aufsuchen könne.
„Jedenfalls keine, von der ich weiß.“
Ich war dahinter gekommen, dass auch er nicht alles wusste und es in den sagenumwobenen Geschichten um die Prager Universitätskreise mitunter große Lücken gab. Vielleicht lag das auch daran, dass wir darauf immer erst zu vorgerückter Stunde zu sprechen kamen und dazwischen mehr als eine Flasche Wein geöffnet worden war, vielleicht weil es mir nicht in den Kopf wollte, wie meine Großeltern von Prag aus nach Zell am See gelangt waren, was das alles mit Hitler und den Nationalsozialisten, den Tschechen und den Juden zu tun haben sollte und warum darüber nie jemand ein Wort verloren hatte. Ich hatte Angst, es werde wieder eine hitzige Debatte ausbrechen, wobei mir der Ausspruch meines Vaters: „Du weißt über meine Eltern einen Scheißdreck“ noch in den Knochen saß.
Lili hatte sich sogar geweigert, zu meiner Buchpräsentation zu kommen. Was ich glaube, damit bezwecken zu wollen, indem ich solches Zeug in die Welt setzte? Sei es nicht an mir, Gutes und Schönes zu verbreiten? Anstelle des Gegenteils? Dabei möchte ich wetten, dass sie genau wie ich keine Antworten auf die Fragen hatte, wie das alles möglich sein konnte und warum wir so wenig wussten beziehungsweise das, was uns erzählt wurde, so erzählt wurde, als wäre es nur gut und recht gewesen.

Selbst wenn ich nichts herausfinden würde, allein wegen Kafka würde sich die Reise lohnen, dachte ich; aber wer dachte nicht an Kafka, wenn er nach Prag fuhr? Freilich hatte ich mich im Internet brav durch das Schicksal der Prager Deutschen gescrollt, hatte Fremdenführer gelesen und mir bei den historischen Metzeleien meinen Teil gedacht; Leo Perutz’ Nachts unter der steinernen Brücke nicht ausgelassen und, schwitzend in der Badewanne, Philip Roths Die Prager Orgie durchgeackert, ganz zu schweigen von Milan Kunderas Unerträglicher Leichtigkeit des Seins. Was ich sonst noch von Prag wusste, war so das übliche: Dass es früher viel authentischer gewesen sei und heute nur noch eine Hochburg Hamburger mampfender Touristen. Und natürlich auch die Schauergeschichten von den unzähligen Prostituierten, die einem, eine jünger als die andere, jederzeit auflauern konnten. Nun, es war an der Zeit, sich einen Eindruck zu verschaffen – „und wovon“, wie Philip Roth sagt, „bekommen wir jemals mehr als einen Eindruck?“ Die Voraussetzungen waren günstig, und an einem Oktoberabend offerierte ich Marie bei einem Glas Weißwein, dass ich bereit sei, in die „Goldene Stadt“ aufzubrechen; allerdings bestand ich darauf, mit dem Zug zu fahren.
„Wenn schon“, sagte ich, „dann will ich diesen stinkigen, abgefuckten Tschechen-Zug mit den 6er-Abteils und den grün lackierten Häuseln und den windigen Türen. Dann musst du dir auch keine Sorgen mehr um dein Auto machen.“
Für mich stand fest, dass daraus zumindest ein Kapitel meines Romans entstehen würde, wenn ich auch wie gesagt ziemlich planlos war, wo ich anfangen sollte, nach meinen Vorfahren zu suchen. Einziger Anhaltspunkt war die Prager Universität, abgesehen vom Wenzelsplatz und der Karlsbrücke, von der meine Großeltern eine Tuschezeichnung im Wohnzimmer an der Wand über dem Flügel hängen hatten. Ein Reiseführer oder eine entsprechende Publikation würde für den nötigen Background sorgen, Zusammenhänge eröffnen, Geschichtliches verständlich machen. Allein das erschien mir abenteuerlich genug, und - um ehrlich zu sein -, was hätte ich auch mit einer exakten Adresse anfangen können? Wieder ein Haus, das nun jemand anderem gehörte, ein Haus, vor dem ich stehen und einmal mehr denken würde, dass die Existenz, die einem jeden gegeben ist, zeitlich begrenzt war, so bedeutend sie auch sein mochte. Wenn der Vorhang fällt, treten andere auf die Bühne und versuchen ihrerseits das Beste daraus zu machen.

„Ich weiß nur, dass beide Großväter Rektoren an der Prager Universität waren“, fuhr Vater fort. „Der eine für Chemie, der andere für Anatomie. Beide Familien kannten sich. Aus der einen stammt deine Oma, aus der anderen dein Opa. Geheiratet haben sie erst sehr viel später, nach dem Krieg. Diese Familien wiederum stammen von zwei Ärzten ab, bedeutende, angesehene Ärzte, die am kaiserlichen Hof tätig waren. Der Großvater deiner Großmutter, der alte H., war Hofarzt beim Kaiser“, ließ Vater mich wissen, wobei ihn Hanna mehrmals unterbrach. „Ich habe diese Geschichte jetzt schon in zig Variationen gehört“, sagte sie. „Er bringt alles durcheinander. Niemand kennt sich da noch aus.“
Sie verdrehte mir gegenüber die Augen, doch Vater ließ sich nicht beirren. „Jedenfalls“, knüpfte er an, „war es eben jener H., der Arzt, der von Prag aus nach Salzburg gefahren ist und von dort mit der Kutsche ins Landesinnere. Das muss um 1870 gewesen sein. Irgendwann kommt er nach Zell am See, und auf diesem See gab es damals einen Schaufelraddampfer. Dieser Schaufelraddampfer macht mächtig Eindruck auf ihn, also beschließt er, über den See zu fahren. Und du weißt, dass der Zeller See einen Kilometer breit und vier Kilometer lang ist. Er nimmt die kürzere Strecke und landet in Thumersbach. Genau auf jenem Grund, wo heute dein Onkel einen Glaspalast hinstellen will. Dort ist natürlich nichts. Nichts als Wasser, Wiese und Wald und Berghänge. Die Seegründe waren damals nichts wert. Die wollte niemand haben. Nicht so wie heute. Was es allerdings gab, war ein kleines schmuckes Wirtshaus. H. landet also dort und ist vom ersten Augenblick an in dieses Wirtshaus verknallt. Ihm gefällt die Gegend, der See, die Abgeschiedenheit, einfach alles. Und nachdem er genug Kohle hat, schlägt er dem Wirt vor, er wolle es kaufen. Der Wirt lehnt ab. Er verkauft nicht, sagt er. H. hinterlässt ihm seine Adresse und sagt, er solle sich melden, wenn er es sich anders überlegt. Zwei Jahre später musste der Wirt verkaufen, weil niemand dort hingegangen ist. Er meldet sich, und H. kauft das Anwesen. Und als es 1945 in Prag zu ‚brennen’ begonnen hat, sind alle dort hingegangen. Und geblieben. Das ist die Geschichte, und darum hast du dort jeden Sommer und jeden Winter verbracht.“

Bereits im Zug habe ich mir Notizen gemacht, mit Bleistift auf die Rückseite eines Skizzenblocks, die heute nur noch bedingt lesbar sind. Von einer „Winterlandschaft” ist da die Rede, einem „streckenweise sonnigen, dann widerum dicht verschneiten Tschechien”, von „Buchenwäldern und Föhrenhainen”, von „Siedlungen”, die mich entgegen aller Erwartung an Wien Hütteldorf erinnerten, und von den zwischen Freistadt und Budweis immer hässlicher und verfallener werdenden Gebäuden und Autos.



Wenige Stunden nach unserer Ankunft am Hlavní nádraží, dem Hauptbahnhof Prags, besuchten wir bei einbrechender Dunkelheit das Kafka-Museum, Touristen gerecht als The City of K. betitelt, und in der Nacht darauf – ich war im Hotelzimmer um vier Uhr morgens aus einem besonders verstörenden Albtraum aufgewacht (Großmutter als junges Mädel in
weißem Hemd, schwarzem Rock, Halstuch, lachend und mit Hitlergruß)-, setzte ich mich an den Tisch und begann zu schreiben.

3. Jänner 2011
Lieber Franz,

Du machst Dir keine Vorstellung davon, was aus Deinen einsamen, dunklen und düsteren Gassen geworden ist. Unüberschaubare Menschenmassen trampeln in einem nicht abreißen wollenden Strom durch die Altstadt, von der Karlsbrücke ganz zu schweigen. Ein Ramschladen nach dem anderen, allesamt grell erleuchtet und bestückt mit dem nutzlosesten Plunder, den es für Geld zu kaufen gibt, speit weithin vernehmbar die übelste und seichteste Musik in die Nacht. Oft überlagern sich die Klänge und produzieren eine Kakophonie, einen Musikbrei, der selbst noch das Gegröle der angeheiterten Horden zu überbieten vermag. Selbst an einem eisigen, unwirtlichen Jännerabend ist es nicht anders; ganz Prag ächzt unter der Last seiner Besucher.
Dein Konterfei ist an jeder Ecke und in jeder U-Bahnstation zu sehen, auf Büchern und Postern, auf Kaffeehäferln und Hundefressnäpfen, Streichholzschachteln und Zigarettenetuis. Selbst ein Mousepad gibt es, das Deine Handschrift trägt. Deine intimsten Aufzeichnungen sind öffentlich ausgestellt und unter Glas für die ganze Welt zu lesen. Alles, was „mit Schmutz und Schleim bedeckt“ aus Dir herausgekommen ist, ist nun Gegenstand einer ungeheuren Geldmaschinerie geworden, wie Du sie Dir nicht hättest erträumen mögen. Tausende und Abertausende laufen nun durch die Kafka-Geisterbahn und mühen sich damit ab zu verstehen, was Du in dunkelsten Nächten nur mit Dir selbst auszumachen hattest. Maschinengestampfe und Krähengekrächze dröhnt aus Lautsprechern, überall gurgelt und blubbert es, an der Wand installierte Telefonapparate geben von Schauspielern gelesene Texte wieder, die Du verbrannt sehen wolltest. Wenigstens den überlebensgroßen Käfer haben sie Dir erspart. In Deinem Geburtshaus und an Deinem Grab dagegen herrscht Totenstille.


Auf der Karlsbrücke habe ich am folgenden Tag eine in Sepia gehaltene Fotografie erstanden, die dem Motiv der Tuschezeichnung im Haus meiner Großeltern ziemlich nahe kommt. Es handelt sich um den Blick von der Karlsbrücke aus zur Kleinseite hin, dem Eingang zur Mostecká hinauf zum Schloss. Im Hintergrund der Turm der Judithbrücke und der Kleinseitner Brückenturm. Im Dunst dahinter der Veitsdom und die Prager Burg. Das Bild wurde offenbar im Winter aufgenommen, die Brücke ist schneebedeckt, vor allem aber zeigt es eine der dreißig Heiligen-Statuen, nach der ich bereits im Kafka-Museums-Shop vergeblich gesucht hatte und die nicht den, wie ursprünglich angenommen, Heiligen Wenzel darstellte, sondern, zwei Statuen weiter Richtung Brückenmitte, den Heiligen Adalbert. Nun, es ist mir unbekannt, wer dieser Adalbert war und was er angestellt hat, um als rußschwarze Statue auf der Karlsbrücke verewigt zu werden (etwas, das sich ohnehin per Mouseklick in Sekundenschnelle erledigen lässt), aber sein Erscheinungsbild ist untrennbar mit meiner Kindheit verbunden. Und zwar aus einem relativ einfachen Grund. Er sieht aus wie der Nikolaus. Noch in der Nacht, und nachdem die Beleuchtung ausgeschalten wurde, erkannte ich die Bischofsmütze und die beiden, gekrümmten Zeige- und Mittelfinger, die er vor sich herhält, von weitem. Dieses Bild von Prag ist mir nie aus dem Kopf gegangen, und als ich schließlich dort war, mit gezücktem Fotoapparat, konnte ich es kaum glauben, dass ich wirklich und wahrhaftig da war. Wie fern war mir diese Stadt als Kind gewesen. Wie wenig hatte ich von den Zusammenhängen gewusst.
„Nikolausstadt“ sagte ich zu Marie. „Kannst du dir vorstellen, ich habe geglaubt, meine Oma komme aus Nikolausstadt?“

Fixpunkt war natürlich, nachdem Vater uns die Geschichte von den Prager Rektoren aufgetischt hatte, die Universität. Den Stadtplan stets zur Hand, irrten wir durch die frostigen Gassen.
„Das ist sie“, rief ich aus, vor dem Ursulinum stehend, wobei Marie ihre Zweifel hatte.
„Zeig mir die Karte“, sagte sie.
„Da ist die Moldau“, sagte ich, „und wenn ich mich nicht irre, ist das die Prager Universität.“
„Also ich weiß nicht“, hielt Marie dagegen.
Natürlich behielt sie recht, und als ich das Gebäude gleich daneben betrat (es handelte sich um die Philosophische Fakultät der tschechischen Univerzita Karlova, eine Uni wie jede andere auch – denn genau das war es, was mich verblüffte: Getränkeautomaten, Kopiergeräte, Uni-Terminals und Spickzettel-Wände, Computer mit Windows 2000 Betriebssystemen), vermisste ich den Flair von höherer Bildung, den ich mir ausgemalt hatte und der in meiner Familie fester Bestandteil dessen war, was ich als Kind mühelos als Bildungsarroganz identifiziert hatte.

Ich habe lange Zeit nach unserer Prag-Reise nichts darüber schreiben können, nichts, was nicht bereits tausendfach abgehandelt worden wäre, wie mir schien.
Ich war vor Ort gewesen, hatte mir angesehen, was ich für entscheidende Eckpunkte meiner Herkunft gehalten hatte, und wusste immer noch nichts. Nichts war erkannt oder gelöst.
War ich mit leeren Händen zurückgekehrt? Blieb es bei dem Zitat von Bernhard Schlink: „Wir sollen nicht meinen begreifen zu können, was unbegreiflich ist ...“? Am Ende würde ich doch vor der Tatsache kapitulieren müssen, dass meine Großeltern begeisterte Nationalsozialisten gewesen waren und der Begriff „Mördergeneration“, obgleich über einen Kamm geschert, trotz allem zutreffend war.
Was ich später über das Internet herausfand, ist weder belegt noch eine Garantie dafür, der Wahrheit auf der Spur zu sein, doch ließ sich über den Konnex zu den Universitäten einiges herausfinden. Schließlich stieß ich in meinen Nachforschungen auf eine Website, die sich „Die Deutsche Biographie“ nannte und entdeckte tatsächlich eine Seite, die Daten zu Leben und Werk meines Urgroßvaters enthielt. Er war, schenkte man diesen Daten Glauben, am 21. November 1873 in Wien geboren und am 23. März 1951 in Thumersbach bei Zell am See gestorben. In der Genealogie schien deutlich ein „5 T.“ auf, was auf seine fünf Töchter schließen ließ, die mittlerweile ausnahmslos verstorbenen Großtanten, eine davon unsere Oma. Seltsam, so nah war ich den Tatsachen noch nie gekommen, dachte ich, und las aufgeregt weiter: „G. besuchte in Wien Gymnasium und Universität und wurde 1899 sub auspiciis Imperatoris zum Doktor der gesamten Heilkunde promoviert. Unter E. Zuckerkandl und F. Hochstetter wandte er sich der Anatomie und Embryologie zu und habilitierte sich 1902 für dieses Fach. 1907 wurde er außerordentlicher Professor, 1909 erfolgte seine Berufung als Ordinarius an die Prager deutsche Universität auf die anatomische Lehrkanzel, die er bis 1945 leitete.“ Bei dieser Jahreszahl jedoch hielt ich inne, erinnerte mich wieder an den von B. geprägten Begriff „Mördergeneration“ und las mit wachsender Besorgnis die Liste an Publikationen, die den Überschriften „Genealogie“, „Leben“ und „Auszeichnungen“ folgte: „Die Metamerie der Haut“, „Anatomie und Entwicklungsgeschichte der Eihäute und der Placenta“, „Die Wege der fetalen Ernährung innerhalb der Säugetierreihe“, „Entwicklung des Urogenitalsystems“, „Eihautbildung und Placentation des Menschen und der Säugetiere“, um nur einige zu nennen. Gruselige Titel, die ich in meiner Situation sofort mit einem latenten Sozialdarwinismus assoziierte, was der restliche Text der biographischen Daten kaum zu entkräftigen wusste: „G. ‘s Hauptforschungsgebiet war die Embryologie. Einige Publikationen legen die entwicklungsgeschichtlichen Grundlagen von Körpermißbildungen dar. Eingehende Untersuchungen beschäftigen sich mit der Entwicklung des menschlichen Vorderdarmes, des Kiemendarmes und des Respirationstraktes. G. studierte die Entwicklung des Trophoblasten und dessen spätere regressiven Veränderungen. Ihm gelangen grundsätzliche Feststellungen über die Ernährungswege der Keimlinge lebend gebärender Tiere. Von ihm stammt eine neue Typeneinteilung der Placenta. (…) Sein Lehrbuch der topographischen Anatomie” – ja, das war das heilige Buch, und ich glaube, sogar einmal ein Exemplar davon in Händen gehalten zu haben – „ist”, wie ich nachlesen konnte, „in seiner Klarheit und Exaktheit mustergültig.”
Wie gesagt, es gibt heute noch lebende Verwandte, die darüber besser Bescheid wissen – zumindest glaube ich das -, doch je mehr ich mich in diese Materie vertiefte, desto mehr wuchs der Zweifel und zugleich auch meine Unsicherheit, nachzufragen. Ich hatte im Vergleich zu denen, über die zu schreiben ich mir vorgenommen hatte, nichts erreicht, nichts, was mich zu derartigen Fragen autorisiert hätte, konnte bloß Mutmaßungen anstellen und forschte sozusagen im Geheimen, und das in vermutlich nicht gerade zuverlässigen Quellen. Die Jahreszahl 1945 ließ mir dennoch keine Ruhe, und als ich in einer weiteren Website auf die Tatsache des Insignienstreits stieß, der 1934 zwischen der deutschen und der tschechischen Universität eskalierte (wobei es Urgroßvater zufiel, diesselben an die Tschechen abgeben zu müssen), wurde mir klar, warum der Einmarsch Hitlers in Prag 1939 für die Prager Deutschen – also auch meine Vorfahren – keine böse Überraschung war. „Am Mittag des 24. November 1934“, ließ mich der Artikel wissen, „sammelten sich mehrere tausend Studenten der Karls-Universität vor dem deutschen Universitätsgebäude. Ihr Rektor Karel Domin hielt eine flammende Ansprache, und auf seinen Appell hin setzte die Menge zur Erstürmung an, während die Studenten der Karl-Ferdinands-Universität erbitterten Widerstand leisteten. Unter dem Eindruck dieser gewalttätigen Ausschreitungen entschloss sich der Rektor G. am darauf folgenden Tag, die Insignien zu übergeben, nachdem eine Übereinkunft, wie etwa die gemeinschaftliche Nutzung für beide Universitäten, von dem Senat der Karls-Universität kategorisch abgelehnt wurde.“ Fünf Jahre später besetzten die Deutschen Prag, die tschechischen Universitäten wurden geschlossen, bis sich 1945 mit Kriegsende das Blatt wieder wendete. Am 18. Oktober wurde mit dem Dekret 112 von Edvard Beneš die Schließung der deutschen Universität verfügt – bis zum heutigen Tag. Die Deutschen wurden vertrieben, nicht weniger grausam als es vorhin umgekehrt der Fall war, Frau und Kind meines Großvaters wurden ermordet, Großvater selbst kam in russische Kriegsgefangenschaft. Alle, die konnten, darunter meine Großmutter, flüchteten nach Österreich, nach Thumersbach bei Zell am See, wo ich einen großen Teil meiner Kindheit verbracht habe. Wie sehr ist mir das Geräusch einer durch einen Ring gezogenen Kette im Bootshaus vertraut. Oder das der Ruder, die in die Gabeln eingesetzt und mit Wasser besprenkelt werden mussten, damit sie nicht quietschten. Die sich kräuselnden Strudel, die sie im grünlichen Wasser hinterließen. Der Tag, an dem ich einen Kilometer über den See ruderte, nur um einen toten Karpfen zu sehen, der unter der Uferpromenade von Zell am See gegen die Schotterbank trieb. Mit dem Surfbrett paddelte ich dem Sonnenuntergang entgegen, habe Barschen, Rotaugen und Rotfedern nachgestellt, sie mit Butter und Paprika herausgebraten und meinen verblüfften Verwandten als Abendessen serviert. Das zerdepperte Geschirr vom Hotel Belle Vue auf dem Grund des Sees, die Algen und die Hechte, die, scheinbar unbeweglich, zwischen den Ranken auf Beute warteten. Das Seefest, die Feuerwerke und das unheimliche Piratenboot. Frisches Gebäck, Fruchtjoghurt und Orangensaft zum Frühstück, einen Tischtennistisch im Hobbykeller, Angeln und Segelboote. Sturmwarnungen und tief hängende, schwarze Regenwolken. Schaumkämme und bedrohliche Gewitter über dem Imbachhorn. Tante Ingrid aus Bayern, mit bronzefarbener Haut und wallender blonder Mähne, die im knappen Bikini den Gabelbaum umklammerte. Oh, wie sehr war ich in ihre Töchter verliebt! Die Rummy-Abende in der warmen Kachelofenstube, umgeben von Waldmüller-Drucken (oder waren es Originale?). Die Steppdecken und die Gastfreundschaft. Großtanten, die über Wölfe und das Nordlicht und gleichsam über die Wärme Griechenlands zu erzählen wussten. Großvater, der eingeschlafen war und zu Bett gebracht werden musste. Der schwarze Telefonapparat, direkt unter einer in schwarzweiß gehaltenen und auf einer Holzplatte kaschierten Luftaufnahme des Zellersees. Das Gewehr an der Wand, das Geweih darüber (wenngleich auch aus späteren Zeiten). Der Geruch von angebrannter Butter in einer Stahlpfanne. Von nassen Badesachen in einer Holzhütte. Verbrennende Buchenscheite. Das Gebimmel der Uhr. Die Comics von irgendwem. Hulk und der Silversurfer. Pumuckelplatten. Glasvitrinen. Dampfende Schikeller. Wäscheleinen, vollgehängt mit durchnässten Socken, Trittbretter für muffige Schischuhe. Die Bergtouren. Schiwasser und Kaiserschmarren auf dem Hundsstein. Eisbecher am Nachmittag unter einer sengenden Sonne. Klapperndes Geschirr. Der Geruch nach Kaffee. Verregnete Tage. Die Lieder, die uns unsere Oma zum Einschlafen vorgesungen, die abenteuerlichen Geschichten, die sie uns beim Spazierengehen erzählt hatte.

Ich erinnere mich, dass ich an diesem Abend (freilich auf eine eigentümliche Art, aber dennoch) erleichtert den Computer ausschaltete, weil sich für mich eins zum anderen gefügt hatte. Ich hatte ein Bild vor Augen anstelle eines pochenden Nichts und konnte anhand der Zusammenhänge sogar die Unwissenheit ermessen, mit der ich den ursprünglichen ersten Text über meine Großeltern verfasst hatte und Onkel B., Dr. phil., damit gegenübergetreten war. Allerdings hatte ich allein über Dinge geschrieben, die ich mit eigenen Augen gesehen hatte, mit kindlicher Naivität eine Welt in Frage gestellt, die ebenso begrenzt wie behütet war. Und in dieser Welt waren sie ganz normale Großeltern gewesen, Schrullis vielleicht, aber gewiss nicht Teil einer „Mördergeneration, die sich damit brüstete, die ein System der Auslese vertreten hatten, der mörderischen“. Jede weitere Nachforschung (die möglich war und die sich mir sogar anhand einiger Adressen aufgetan hatte) - das wusste ich so gut wie jeder andere -, würde diese Illusion weiterhin Stück für Stück abtragen, das Kartenhaus kindlicher Vorstellungen endgültig einstürzen lassen. Die bessere Erinnerung dagegen würde mir für immer erhalten bleiben. Tja, wie einfach es doch wäre, das Schlechte auszuklammern und das Gute hervorzuheben.

5. Jänner 2011

Am letzten Tag, lieber Franz, kurz nach dem Auschecken, sind wir noch an Dein Grab geeilt. Nicht weil wir es auf unserem Tourismus-Sightseeing-Plan noch schnell abhaken wollten, sondern der Neue Jüdische Friedhof, direkt an der Metrostation Želivského gelegen, nicht länger als 16.00 Uhr geöffnet hat. Andernfalls wären wir in der Abenddämmerung an Deine letzte Ruhestätte getreten, etwas besinnlicher, vielleicht mit einer Ausgabe eines Deiner Tagebücher und einer Flasche Wein, und nachdem wir eine Kerze entzündet hätten, hätten wir uns gegenseitig daraus vorgelesen. Auf dem Grabstein (wir waren schon von der Abbildung in der MERIAN-Ausgabe entsetzt gewesen, dass sie Dich – salopp formuliert - zu Deinen Eltern gelegt haben. Oder besser gesagt: Deine Eltern zu Dir. Dein Vater ist sieben Jahre nach Dir gestorben), lag etwas, das einmal ein Adventkranz gewesen sein mochte.
Am gefrorenen Boden davor dürre Zweige, Efeublätter, zudem ein gebundener Strauß getrockneter Blumen und, kontrastierend zum Schnee, ein einfacher, roter Apfel.
Mach’s gut.


Foto: Robert Maybach
Peter Wenzel
geboren 1974 in Linz. Aufenthalte in Graz, Wien und Linz/Umgebung. Lebt mit Frau und zwei Kindern im Mühlviertel. Erlernter Beruf: Grafiker. Verschiedene Tätigkeiten als Layouter, Fotograf, Freier Texter und Journalist. Musiker bei der Formation Barking Dog. Lehramt-Student für BE/WE an der Kunstuniversität Linz. Jugendbetreuer.
Literarisches: An der Grenze, 2006 Facetten. Holzschneiden mit dem Vater, 2008 Facetten. Tatjana – unter den besten 20 beim fm4 wortlaut-literaturwettbewerb 08 -, veröffentlicht in der erostepost Nr. 38, Salzburg. Dezember 2009: Holzschneiden mit dem Vater, Edition Linz, Verlag Bibliothek der Provinz. Jänner 2011: Falsche Züge, blaue Pferde, erostepost Nr. 43, Salzburg. Derzeit in Arbeit: Bekenntnisse eines Knaben im sechzehnten Lebensjahr. Mitterverlag, Wels.
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